Interviews

«Für mich ist Musik immer noch eine narrative Kunst.»

Daniel Andres über seine Oper «Derborence»

Wie kam es, dass Sie Charles Ferdinand Ramuz’ Roman «Derborence» vertont haben?
Der Roman hat mich schon immer fasziniert. Er hat mich lange beschäftigt, aber ich wusste anfangs nicht, wie den Stoff auf die Bühne bringen, und habe deshalb zunächst ein Orchesterstück geschrieben. Das Buch hat zwei Teile mit insgesamt achtzehn Kapiteln. Als ich die Lösung gefunden und einen Plot in sieben Szenen entworfen hatte, ging es recht rasch. Ich habe dann das ganze Werk in zwei Monaten geschrieben. Die Aufgabe hat mich gereizt, und Dieter Kaegi war sofort interessiert.

Was fasziniert Sie an dem Buch?
Vieles. Diese Atmosphäre der Berge, das Schwere und Langsame. Die Geschichte von dem jungen Mann Antoine, der nach einem Bergsturz eine Zeitlang lebendig begraben ist. «La montagne m’est tombée dessus», der Berg ist auf mich gestürzt, sagt er. Wie überlebt man eine an sich hoffnungslose Situation! Dann gibt es andererseits seine verzweifelte Frau Thérèse. Als Antoine sieben Wochen später wieder ins Dorf kommt, glauben alle zuerst, dass er nur ein Geist ist. Thérèse ist die erste, die ihn wiedererkennt und erkennt, dass er ein lebender Mensch ist. Dieser Glaube an Geister und an das Teuflische, das aus diesen Bergen – aus den Diablerets – kommt, ist sehr präsent in dem Roman. Auch das hat mich inspiriert. Die Geschichte ist sehr bewegend, aber auch diese Sprache von Ramuz ist so besonders. Ich habe das Libretto selbst geschrieben und die originale Sprache des Buches möglichst genau adaptiert.

Hat die Schweizer Volksmusik, besonders die der Menschen in den Bergen, Spuren in Ihrer Oper «Derborence» hinterlassen?
Ein bisschen schon, ich wollte die pastorale Stimmung zu Beginn in der Musik aufleben lassen und auch ganz am Schluss, da taucht auch ein Alphornmotiv in der Flöte auf. Aber sonst wollte ich das Folkloristische eher beiseitelassen und mich auf das menschliche Drama konzentrieren.

Haben Sie eine besondere Musiksprache gewählt, um diese Bergwelt darzustellen? Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben?
Mir ist es wichtig, das Emotionale in der Musik zur Geltung zu bringen, aber auch das Illustrative. Für mich ist Musik immer noch eine narrative Kunst, die auch stark mit der Sprache verbunden ist. So habe ich auch versucht, die Sprache von Ramuz möglichst genau in Musik zu setzen und den Sängern ebenfalls Möglichkeiten zur Entfaltung zu schaffen. Charakteristisch für die Oper sind wohl die dunklen Klänge in den Streichern und in den Bläsern.

Wie ist es für Sie als Bieler Komponist, Ihre Oper gerade in Ihrer Heimatstadt uraufzuführen? 
Eigentlich ist es mir schon sehr wichtig. Es ist wunderbar, an unserem Theater so professionell erarbeitete Aufführungen erleben zu dürfen. Zudem bin ich ausserhalb Biels wenig bekannt, so ist es sehr schön, diese Aufführungsmöglichkeit hier zu haben. 


Daniel Andres
Komponist
Daniel Andres wurde 1937 in Biel geboren. Nach Abschluss des Lehrerseminars Bern-Hofwil fokussierte er sich auf die Musik und studierte am Konservatorium Bern, der heutigen Hochschule der Künste, die Hauptfächer Orgel bei Otto Schaerer sowie Theorie und Komposition bei Sándor Veress. Er schloss alle Fächer mit Lehrdiplom ab, führte jedoch sein Orgelstudium bei Otto Schaerer noch weitere vier Jahre fort. 1976 besuchte er einen Meisterkurs für Komposition bei Kasimierz Serocki an der Musikakademie Basel.

«Eine herausragende Opernpartitur»

Dirigent Yannis Pouspourikas über Daniel Andres' Oper «Derborence»


Was ist Ihr Eindruck von der Partitur der Oper «Derborence»?
Es ist eine herausragende Opernpartitur, eine Partitur, in der die Musik nicht einfach die Bedeutung des Textes verdoppelt, sondern überhaupt erst die Atmosphäre des Ortes erzeugt, an dem der Text und die Geschichte spielen. Wir haben hier den Typus Oper, der mit Farben arbeitet – so wie das zum Beispiel bei Debussy der Fall ist. Es handelt sich um eine narrative Oper, eine grosse Geschichte. Diese Geschichte spielt in den Bergen, und das hört man in der Musik. Man hört und spürt auch, wie klein der Mensch ist, wie gross die Gefahr um ihn herum. Die Beschreibung und die Schwere des Schnees, die Beschreibung des Verhältnisses zur Zeit, das die Menschen in den Bergen haben... alles ist da.

Es gibt dort Marschmusik, bei der der Schritt so schwer ist... Dieser Schritt der Bergler an einem Hang, bei dem die Schuhe so schwer sind. All dies, die ganze Atmosphäre der Berge, wird äusserst gut beschrieben. Das funktioniert durch Farben, die zum Beispiel sehr oft verbunden sind mit dem Kontrabass und der Posaune. Vieles in der Musik vermittelt sich auch durch die «Abwesenheit von Musik», durch grosse Stille. In dieser Klangwelt, die Daniel Andres vor allem durch die Instrumente aufbaut, spielt sich auf der vokalen Ebene dann die Geschichte ab. Aber die Beschreibung der Bergwelt selbst ist instrumental.

Wie erarbeitet man sich ein Werk, das noch nie jemand gespielt hat?
Indem man es ausprobiert. Es ist witzig, denn «proben» heisst auf Französisch «répéter» - wiederholen. Es hat etwas Mechanisches, du wiederholst und wiederholst, und am Ende weisst du, wie es geht. Im Gegensatz dazu kommt aber «proben» im Deutschen von «probieren». Es braucht beides. Dies ist nicht meine erste zeitgenössische Oper, und ich glaube, ich kann die dramatischen Absichten erahnen. Am Anfang arbeitest du mit der Partitur, du bekommst eine Vorstellung von den dramatischen Spannungen, und je mehr du arbeitest, desto besser verstehst du sie. Irgendwann erreichst du aber eine Ebene des Verstehens, die «deine» Grenze hat: Du musst nämlich hören, wie es klingt.

Also setzt man sich ans Klavier, um zu hören, wie es klingt, und man kommt auf eine zweite Ebene des Verständnisses, wenn man den Notentext gelernt hat und realisiert, dass der Tenor hier eine schwierige Stimmlage hat und die Sopranistin dort eine entspanntere. 

Dann stösst man aber an eine weitere Grenze. Man kann nämlich nicht alles vorbereiten, ohne die Sängerinnen und Sänger zu kennen. Denn sie bringen sich auch selbst ein. Man muss immer 10% Freiraum dafür lassen, dass sie sich trauen, sie selbst zu sein. Künstler*innen: Sie sind also eine Quelle kreativer Impulse. Abgesehen davon, dass es in einer zeitgenössischen Oper weit mehr sind als 10%... Das liegt daran, dass der Sänger oder die Sängerin bei der Vorbereitung die gleichen Probleme hat wie du: Er bzw. sie ist erst einmal völlig blind. Manchmal stösst man auf die gleichen Lösungen für ein Problem, manchmal aber auch nicht. Dann spricht man eben mit dem Pianisten und sucht gemeinsam. Manchmal sucht man, indem man die Tempi anders nimmt, die Atmosphäre anders gestaltet. Und wir suchen nicht nur nach dem, was in Bezug auf die Künstler*innen auf der Bühne funktioniert, sondern auch nach dem, was in Bezug auf die innere Struktur des Stücks funktioniert. 

An diesem Punkt beginne ich bereits eine genauere Vorstellung zu haben und meine Geschichte erzählen zu können. Ich diskutiere auch viel mit dem Regisseur, die Zusammenarbeit mit Dieter Kaegi ist sehr gut. Er nimmt diese Grundidee an, auf der die gesamte Partitur aufgebaut ist, die Idee der alles beherrschenden Berge. Ausserdem haben wir den Komponisten Daniel Andres an unserer Seite! Also können wir uns an einem gewissen Punkt einfach an ihn wenden: Daniel, was hast du hier gewollt?

Gibt es in dieser Partitur besondere Schwierigkeiten für Sängerinnen und Sänger?
Ja, und wie es bei solchen Werken immer der Fall ist, wird man erst spät damit konfrontiert. Die Schwierigkeit besteht darin, vom Klavier auf die Orchesterfarben zu wechseln. Die Partitur, die man bei den ersten Proben vom Klavier hört, funktioniert harmonisch, und die Harmonien sind ziemlich klar. Im Grunde hören die Ausführenden auf dem Klavier bereits alle Orchesterfarben. Aber das Klavier macht alles ein wenig monochrom! Wenn man also von den Klavierproben zu den Orchesterproben übergeht, ist es für die Sängerinnen und Sänger ziemlich schwierig: Was wird man hören und erkennen? Vielleicht hat man seinen Einsatz auf der Grundlage eines bestimmten Klavierklangs gefunden, aber jetzt spielt eine Flöte diese Stelle, und die Flöte sitzt unter der Abdeckung im Orchestergraben. Was tut man, wenn man sie nicht hört? Ich muss also einen sicheren Überbau bieten, damit sich alle auch dann gut orientieren können, wenn sie nicht das hören, was sie gewohnt sind zu hören.

Wie ist es für das Orchester?
Es ist ein wenig so, wie wenn man Debussy spielt. Daniel Andres ist auch einer jener Komponisten, bei denen der Orchesterpart, sobald man ihn von der Gesangsstimme trennt, unvollständig wird. Er schreibt für das Orchester ganz anders als für die Personen auf der Bühne. Die ersten Leseproben mit dem Orchester sind ein Arbeiten mit Material, das aus ganz kleinen Farbtupfern besteht. Aber für die Musikerinnen und Musiker sind vermutlich die Proben mit den Solostimmen entscheidend, um ihre jeweilige eigene Funktion zu verstehen.

Wie schweizerisch ist die Musik der Oper «Derborence»?
Was sehr schweizerisch ist, ist die Beschreibung einer Atmosphäre, dieser Geist der Berge. Das ist sehr prägend, allerdings nicht im Sinne von musikalischen Motiven. Daniel Andres hat nicht nach einem Thema gegriffen wie, sagen wir, einem Jodel, um diesen dann zu modernisieren. Vielmehr hat er den Geist des Berges tief mit hineingewebt, der viel schwieriger zu beschreiben ist. Er tut dies mit Liebe und mit Geschick.


Yannis Pouspourikas
Musikalische Leitung
Yannis Pouspourikas studierte am Konservatorium in Genf und am Opernhaus Zürich, bevor er Assistent von Sir Simon Rattle beim Festival Glyndebourne und für vier Spielzeiten an der Opéra National de Paris wurde. Er arbeitete darauf an verschiedenen Häusern wie dem Orchestre National de Lyon, der Opéra de Flandres und dem Aalto Theater Essen…

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