Interview

«Die Partitur ist ein Algorithmus»

Die erste Fassung von «Macbeth» (Florenz 1847) enstand mitten in der Phase, die Verdi seine «Galeerenjahre» nannte. Siehst du diese Oper künstlerisch als ein Frühwerk Verdis? 
«Macbeth» ist zwar tatsächlich ein relativ frühes Werk, und Verdi musste in diesen Jahren sehr viel komponieren. Aber schon innerhalb dieser Jahre sieht man eine deutliche Weiterentwicklung bei ihm, auch stilistisch. Was er damals oft vermisste, war die Zeit, zu korrigieren und etwas zu überarbeiten. Wenn man sich die zweite Fassung aus dem Jahr 1865 anschaut, findet man etliche Änderungen gegenüber der von 1847, weil ihm manches aus der Perspektive der späteren Jahre dramaturgisch nicht mehr passte. Aber es gibt sowieso nicht den einen Verdi, sondern mehrere. Das hat auch mit den äusserlichen Entwicklungen zu tun: Die Opern seiner ersten Phase, auch «Macbeth», stammen aus einer Zeit, als Italien als Staat noch gar nicht existierte. Italien war stattdessen ein Flickenteppich aus verschiedenen Staaten, deren Grenzen Verdi ständig passieren musste, wenn er in einer anderen Stadt eine Oper aufführte, mit allem Drum und Dran von Zoll bis Quarantäne. Erst 1861 kam die Vereinigung Italiens. Die politischen und geografischen Unterschiede der Regionen muss man immer im Kopf haben, wenn man über Verdi spricht.

Wir spielen eine Version mit Teilen aus beiden Fassungen. Ist dies die optimale Lösung? 
Es ist eine Fassung, die sich durchgesetzt hat und die sehr gut funktioniert. Ich schätze auch die zweite, also die Pariser Fassung, von der hier vieles enthalten ist. Aber wir lassen z.B. die Ballabili – die Tänze der Hexen – weg, die eine typische Hinzufügung für das französische Publikum waren. Grundsätzlich muss man immer bedenken: Eine letztgültige oder eine «Ur»-Fassung gibt es nicht, besonders nicht im Belcanto! Der Komponist selbst hat bei jeder Reprise der Oper etwas geändert, er hat immer geschaut, welche Sänger*innen er zur Verfügung haben würde und welche Instrumente, und hat dann die neue Fassung an die Besetzung angepasst. Und sogar eine «Uraufführungs»-Fassung zu rekonstruieren ist eigentlich nicht möglich. Das würde sonst heissen, dass man die ganze Situation von 1847 rekonstruieren müsste: Originalinstrumente, Kerzen, keinen Strom, den Inszenierungsstil der damaligen Zeit… Es geht nicht nur um die Partitur. Und was ist überhaupt eine Partitur? Sie ist ja für sich selbst noch kein Kunstwerk, sondern ein Algorithmus, eine Sammlung von Informationen, mit denen der Komponist uns mitteilt, was wir machen müssen, damit wir überhaupt zum Kunstwerk kommen. Darüber legt sich aber eine lange Geschichte von Interpretationen. Man kann diesen Algorithmus nie hundertprozentig übersetzen, und am nächsten kommt man ihm, wenn man sich mit der damaligen Aufführungspraxis beschäftigt. Man muss die Quellen der damaligen Zeit lesen, um zu wissen, wie man zum Beispiel einen Akzent richtig setzt oder ein Accompagnato-Rezitativ gestaltet. Das ist Wissen, das zu Verdis Zeit selbstverständlich war und es heute nicht mehr ist.

Ist denn «Macbeth» eher traditionell oder neu? 
Es ist immer noch eine Belcanto-Oper. Man lässt sich leicht in die Irre führen von Verdis berühmtem Ausspruch, dass er für Lady Macbeth eine «hässliche Stimme» haben wollte. Aber das hat viel mit dem Geschmack der Zeit zu tun, sicher hat es nicht bedeutet, dass sie schreien sollte. Es gibt hingegen viele Belcanto-Nummern, etwa Macduffs Arie oder die letzte Arie von Macbeth. Auch die Orchesterbesetzung ist noch relativ traditionell. Verdi setzte aber die Instrumente, die er zur Verfügung hatte, immer sehr bewusst ein. In Florenz, wo «Macbeth» uraufgeführt wurde, hatte er zum Beispiel ein Englischhorn, also setzte er dieses Instrument für gewisse Farben und Motive ein. Etwa für die Schreie einer Eule, die mehrmals im Text erwähnt werden. Diese Laute malt Verdi durch einen Klangmix aus Fagott und Englischhorn, der tatsächlich einem Eulenschrei ähnelt. Solche Klangmalerei ist keine neue Technik, aber Verdi wendet sie immer meisterhaft an. 

Neu ist aber sein Umgang mit Tonarten. In «Macbeth» werden ungewöhnlich viele B-Tonarten eingesetzt, mehr als bis dahin üblich. Zum Beispiel in der grossen Szene zwischen Macbeth und der Lady, wenn der Mord an Duncan begangen ist, sie die Mordwaffe beseitigen, dann wechselt es immer zwischen f-Moll und d-Moll. In «Macbeth» haben wir sogar fes-Moll – eine ziemlich schwer zu spielende Tonart, vor der die Orchestermusiker*innen grossen Respekt haben. Und auch das verändert die Klangfarbe sofort!

Und dann sind da noch die Hexen… bei Shakespeare sind es drei.
Die Drei ist natürlich eine magische Zahl. Hexen wurden lange Zeit als Einzelpersonen betrachtet, als weise alte Frauen, Wahrsagerinnen, Heilerinnen. Bis es dann ab dem späten Mittelalter vermehrt zu Hexenverfolgungen kam, die zu Shakespeares Zeit in ganz Europa verbreitet waren. Zu Verdis Zeit war dies zum Glück längst Vergangenheit. Aber inzwischen stellte man sich Hexen eher als Gruppe vor und nicht als Einzelwesen. Insofern passt es, dass Verdi aus den drei Hexen einen ganzen Hexenchor machte. Einen Damenchor aus drei Gruppen! Die magische Zahl Drei bleibt also erhalten. Verdi besass eine riesige Kreativität und fand immer geniale dramaturgische und musikalische Lösungen. 


Franco Trinca
Musikalische Leitung
Studium in Dirigieren, Komposition, Klavier und Chorleitung am «Conservatorio Santa Cecilia» in Rom. Danach Chorleiter und Korrepetitor bei RAI. 1989 Preisträger des Dirigierwettbewerbs «Carlo Zecchi». Seit 1991/92 Dirigent am TOBS!. Er leitete über hundert Opern, bei TOBS! Theater Orchester Biel Solothurn unter anderem «Luisa Miller», «Die Zauberflöte», «Il Trovatore», «Così fan tutte», «Macbeth», «Don Giovanni», «Idomeneo», «Rigoletto», «Viva la mamma», «Don Pasquale», «Il Barbiere di Siviglia» und «La Cenerentola».

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