Digitales Programmheft

Die Stühle

Tragische Farce
Eugène Ionesco
Deutsch von Jacqueline Seelmann-Eggebert und Ulrich Seelmann-Eggebert

Inhalt

Ein greises Ehepaar, er 95, sie 94 Jahre alt, leben in einer schäbigen Wohnung, die rundum von Wasser umgeben ist. Um der trostlosen Langeweile ihrer Gegenwart zu entfliehen, schwelgen sie in verklärten Erinnerungen an ihr einstiges gemeinsames Glück. Sie scheinen die letzten Überlebenden einer postapokalyptischen Welt zu sein.

Allmählich gehen ihre kindlichen Schwärmereien in offene Vorwürfe über. Nachdem Die Alte ihren Mann eben noch mit Lob überhäuft und wie einen Sohn bemuttert und liebkost und damit getröstet hat, dass er in Wahrheit ein grosser Philosoph sei und eigentlich auch das Zeug zum Chef gehabt hätte, beklagt sie sich im nächsten Augenblick, über dessen Nichtsnutzigkeit, derentwegen er es im Leben zu nichts Besserem als zum Hausmeister gebracht habe.

Um der Nachwelt eine letzte wichtige Botschaft weiterzugeben, laden die beiden neben unzähligen Gästen, einen Redner ein. Sie sind hektisch damit beschäftigt, die nach und nach aus aller Welt eintreffenden unsichtbaren Honoratioren (Präsidenten, Bankiers, Besitzer, Gelehrte, Bischöfe) und sonstigen Gäste mit ausgesuchter Höflichkeit zu begrüssen und für sie genügend Stühle herbeizuschaffen. Das laute Läuten der Türklingel zwingt den beiden Alten dabei den Rhythmus auf. Nebenbei entfaltet sich die lange Ehegeschichte der beiden Alten, die vor allem von Isolation und von der Unmöglichkeit echter Kommunikation im endlosen Kreislauf des Lebens geprägt ist. Im Wirrwarr der Stühle drohen sich die beiden Alten aus den Augen zu verlieren. Beim Eintreffen des Kaisers finden die Komplimente der Gastgeber für ihre Gäste ihren Höhepunkt. Restlos begeistert sind die beiden, als schliesslich der Redner erscheint. Nun kann die Quintessenz all ihrer Erfahrungen ausgesprochen und ihr Leben zur Legende verklärt werden – ein Glück, das nicht mehr zu steigern ist –, weshalb sie sich in einer letzten Ekstase aus dem Fenster ins Wasser stürzen.

«Die Stühle» ist ein Einakter von Eugène Ionesco. Der französisch-rumänische Schriftsteller gilt in Frankreich als der bedeutendste Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und als führender Vertreter des Absurden Theaters. Die vom Autor als «tragisch» bezeichnete Farce wurde 1952 in Paris uraufgeführt.

Weitere Informationen

 

Mit französischer Übertitelung in Biel
Dauer: ca. 90 Minuten ohne Pause
Altersempfehlung: 14+

Live-Einführung und Nachgespräch: Informationen hier.

Besetzung

Besetzung

Inszenierung Deborah Epstein
Bühnenbild, Kostüme, Tonspur und Video Florian Barth
Lichtgestaltung Michael Nobs
Dramaturgie Patric Bachmann
Regieassistenz und Inspizienz Nora Bichsel
Regiehospitanz Naira Hindenburg
Übertitel SUBTEXT, Dòra Kapusta
Übertitelinspizienz Stephan Ruch

Der Alte, 95 Jahre Günter Baumann
Die Alte, 94 Jahre Silke Geertz
Und viele andere Personen
Statisterie TOBS! (Franziska Bussmann, Christopher Barry sowie Lior Strassburger / Lionel Tonn / Konrad Zschiedrich)
 

Technik

Technik

Technischer Direktor Günter Gruber

Leitung Ausstattung und Werkstätten Vazul Matusz
Schreinerei Simon Kleinwechter (Leitung) | Steven McIntosh | Raphael Schärer
Malsaal Daniel Eymann (Leitung) | Julian Scherrer
Dekorationsabteilung Ursula Gutzwiller
Requisiten Marianne Winkelmann
Maske Schauspiel Barbara Grundmann-Roth (Leitung) | Mandy Gsponer

Leitung Schneiderei Gabriele Gröbel
Schneiderei Catherine Blumer Natalie Zürcher  (Gewandmeisterinnen Damen) | Janine Bürdel | Sarah Stock (Gewandmeisterinnen Herren) | Christine Wassmer (Admin. Stellvertreterin) | Katrin Humbert | Dominique Zwygart
Ankleiderinnen Martina Inniger | Anja Wille 

Technischer Leiter Adrian Kocher
Bühnenmeister Biel Samuele D'Amico
Bühnenmeister Solothurn Rémy Zenger
Technische Einrichtung Christopher Barry | Peter Wiesmeier
Ton und Video Alex Wittwer
Leitung Beleuchtungsstatisterie Ulrich Troesch

und das Technik-Team TOBS!

Die Ausstattung wurde in den eigenen Werkstätten hergestellt.
 

Die Stühle - Auf den Punkt gebracht


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«Ich bin nicht ich selbst. Ich bin ein anderer. Ich bin der eine im anderen ...»

 

Der Alte, Die Stühle

Autor

Eugène Ionesco, geboren 1909 in Rumänien und 1994 in Paris gestorben, war ein französisch-rumänischer Autor. Als Kind wechselte Ionesco mehrmals den Lebensmittelpunkt zwischen Rumänien und Frankreich, dies zunächst wegen der familiären Konstellation später auch auf Druck der politischen Situation in Europa. So lernte er früh zwei Sprachen und zwei Kulturen kennen.

1928 begann er ein Französischstudium an der Universität Bukarest. Hier kam er in Kontakt mit Emil Cioran und Mircea Eliade. Deren Tendenzen zum Nazismus und rumänischen Faschismus teilte er nicht. Auch lernte er seine spätere Frau Rodica Burileanu kennen, eine Philosophie- und Jurastudentin aus einflussreicher rumänischer Familie. Daneben las er viel und schrieb Lyrik, Feuilletonistisches und Literaturkritiken. Nachdem er 1934 sein Studium abgeschlossen hatte, unterrichtete er Französisch an verschiedenen Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Im Jahr 1936 heiratete er. Weiterhin wechselte die junge Familie mehrmals ihren Wohnort. Gegen Ende des 2. Weltkrieges zog Ionesco mit seiner Familie endgültig nach Frankreich. 1948 begann Ionescos Theaterlaufbahn mit dem Stück «Die kahle Sängerin». 1951 verfasste er u.a. «Die Stühle», die ein Jahr später zur Uraufführung kamen. 1957 schrieb Ionesco die Erzählung «Die Nashörner». Diese bearbeitete er ein Jahr später zum gefeierten Theaterstück.

Etwas widerwillig, aber kontinuierlich, avancierte Ionesco nun zu einem etablierten Autor, der zu Vorträgen eingeladen, mit Preisen und Ehrungen bedacht und 1970 auch in die Académie française aufgenommen wurde. In den 1980er und 1990er Jahren verfiel er zunehmend in schwere Depressionen und begann als Therapie dagegen sich auch als Maler zu beschäftigen. Als Ionesco 84-jährig in Paris starb und auf dem Cimetière Montparnasse begraben wurde, war er nicht nur ungekrönter König des sogenannten «Theaters des Absurden», sondern galt auch als einer der grossen französischen Dramatiker überhaupt. 

Die Stühle - Meet the cast


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«Beim Sprechen finden sich die Gedanken, die Worte und in den Worten finden wir uns selbst.»

 

Die Alte, Die Stühle

Das absurde Theater oder das Theater des Absurden

Der Begriff des Theaters des Absurden (frz. théâtre de l’absurde) bildete sich in den 1950er Jahren als Sammelbegriff für eine vorwiegend in Frankreich aufkommende Art von Dramen mit grotesk-komischen sowie irrealen Szenen; der Begriff des «absurden Theaters» etablierte sich mit der gleichnamigen Monographie von Martin Esslin (New York, 1961). Diese Richtung des Theaters des 20. Jahrhunderts befragt die Sinnfreiheit der Welt und stellt den darin orientierungslosen Menschen dar.

Das erste Drama mit absurden Zügen und bewusster Abwendung vom klassischen Theater ist «König Ubu» von Alfred Jarry, welches bereits 1896 einen Skandal verursachte. Jarry wie auch später andere Autoren spielen mit sprachlichen Gemeinplätzen und bringen sie konkret auf die Bühne. Ihre Stücke haben antibürgerliche und propagandistische Intentionen und ähneln teilweise Fabeln. Insgesamt bleibt bei diesen Werken der Eindruck, dass ihre Andersartigkeit über nur wenig mehr als ein spielerisches Experiment hinausgeht. Dies mag der Grund dafür sein, warum mit Ausnahme von «König Ubu» die Dramen der frühen experimentellen Phase heute so gut wie nicht mehr in den Spielplänen zu finden sind.

Konsequenter und radikaler in der Verwerfung der klassischen Theaterstrukturen sind Autoren wie Eugène Ionesco und Samuel Beckett, deren Werke man typischerweise mit dem «Theater des Absurden» assoziiert. Die Dramen Becketts, vor allem sein berühmtestes Werk «Warten auf Godot», gehören heute zur Weltliteratur. In den Stücken der «absurden Dramatiker» lösen sich die vom klassischen Theater geforderten Einheiten der Zeit, der Handlung und des Ortes auf. An ihre Stelle treten unlogische Szenarien, absurde Handlungen und wahllos verknüpft erscheinende Dialogreihen.

Silke Geertz, Günter Baumann
© Joel Schweizer

Umstritten ist, ob es sich bei dem absurden Theater um «absurde Darstellungen» oder um die «Darstellung des Absurden», d.h. der Absurdität der Welt, handelt. Laut Wolfgang Hildesheimer tendierte das Publikum zur erstgenannten Annahme, da es sich weigerte, sich selbst und ihr Leben für absurd zu halten. Die meisten Theoretiker sympathisieren mit der zweitgenannten Annahme, der zufolge das absurde Theater als Ausdruck einer Weltsicht des Absurden begriffen werden könne. Berührungspunkte gibt es hier mit der existentialistischen Philosophie, die in Frankreich in den dreissiger und vierziger Jahren durch die Arbeiten von Jean-Paul Sartre und die absurde existentialistische Philosophie eines Albert Camus populär wurde. Beeinflusst von den Forderungen Antonin Artauds («Le Théâtre et son double»,1938) sind die Dramatiker bestrebt, Gestik, Dekor und Bühnenelementen eine dem Dialog gleichgestellte Rolle zuzuweisen. Sprache wird als formelhaftes, sinnentleertes Kommunikationsmittel entlarvt. Das Vermischen von tragischen und komischen Elementen ist ebenfalls kennzeichnend für das Theater des Absurden. Absurde Handlungen und Dialoge gipfeln in seinen Stücken nicht selten in Situationskomik, die – eingebettet in die tragische Lage der Charaktere – die tragische Wirkung der Stücke verstärkt. 

«Wollen wir die verlorene Zeit einholen? Kann man es noch? Die Zeit rast an uns vorbei wie ein Zug, die Schienen graben sich in unsere Haut.»

 

Der Alte, Die Stühle

Das Paar und die Leere

«Meine Figuren besitzen nichts als ihre Gewissensbisse, ihre Misserfolge und die Leere ihres Lebens. Wesen, die von abwesendem Sinn umgeben sind, können nur grotesk sein. Ihr Leiden kann nur eine Tragik sein, die zum Spott herausfordert. Weil ich die Welt nicht verstehe, warte ich darauf, dass man sie mir erklärt.» so Ionesco anlässlich der Uraufführung 1952 in Paris.

Das «Nichts», das nach Aussage des Autors die Figuren «Der Alte» und «Die Alte» besitzen, ist aber nicht die Leere von Marionetten, die an Drähten zappeln, sondern es ist ein «Nichts» prallvoll von Erinnerungen, von Träumen. Das ist nicht die Leere selber, sondern es sind «Wesen», die die Leere empfinden und darunter leiden.

«Menschen» im Gegensatz zu Marionetten und Charakteren tragen eine Leere in sich, ein Nichts, sie sind brüchig, die Bedrohung dringt durch alle Ritzen. Sie wehren ab, sie verteidigen sich, sie bauen sich auf und werden immer wieder abgebaut – biologisch durch das Alter; durch das Sterben, sozial durch die Domestizierung. Das Dasein der anderen und nicht nur der eigene Tod sind ihre Grenze, auch wenn sie zugleich ihre Existenz bestätigen. Der andere aber ist in diesem zweifachen Sinn: Partner und Begrenzung, und das gilt vor allem für den Intimpartner: Gatte und Gattin. Das Paar ist zugleich die Festung und die Belagerung, es ist Intimität und Fremde, Sicherheit und Bedrohung, erlebte und gehinderte Einsamkeit; es ist der «geschlossene Raum».

Da das Ich so viel Negativität in sich trägt, soviel «néant», muss es wenigstens äusserlich Substanz häufen oder vortäuschen. Da hilft der Partner. Die Ehe, das kann beides sein – und in diesem Widerspruch ist sie theatralisches Moment: wechselseitige Hilfeleistung im Sichpanzern und Zerstörung des Panzers durch die Intimkenntnis der verborgenen Schwächen. Das Paar, das sind zwei Menschen, die füreinander ungeheuer interessant sind, auch wenn sie es sonst für niemanden sind. Das ist ein mögliches Resümee von «Die Stühle». Wir haben hier das in einer gleichgültigen Welt einander bestätigende Paar. Ehe kann aber auch Irritation bis zum Hass sein und ständiges Wühlen in den Wunden des anderen: Delirium zu zweit.

Silke Geertz, Günter Baumann, Lior Strassburger, Lionel Tonn, Konrad Zschiedrich
© Joel Schweizer

Das Erzählen von Geschichten nimmt in «Die Stühle» eine zentrale Stellung ein. Eigentlich geschieht bis zum grotesk schaurigen Schluss nichts anderes, als dass zwei Einsame einander Geschichten erzählen, fabulieren und sich und einander etwas vormachen und vorspielen. Die Begrüssung der unsichtbaren Gäste ist nur die Fortsetzung dieses Illusionsspiels, das schon mit den ersten Dialogen einsetzt.

Die beiden Alten setzen ihr Leben aus Fetzen von Erinnerungen und Frustriertheiten zusammen; sie alle betreffen ihn, den Mann, was er war, was er hätte sein können, wenn die Welt ihn erkannt hätte. Selbsttäuschung und Enttäuschung – der typische Stoff des Tragikomischen. Kein Mensch im Publikum, der die Szene nicht mit eigenen verdrängten Erfahrungen verbinden könnte, wenn er es wagt. Komisch ist hier die querulantische Wehleidigkeit. Die «anderen» waren immer böse und ungerecht. Das Scheitern ist nur die Schuld dieser anderen oder auch Schicksal, Pech. Die Einsicht, dass man selber vielleicht in irgendeinem Mass dafürkonnte, ist am Ende eines abgelebten Lebens nicht zu ertragen. Hier steht nicht «Lebenslüge» gegen Wahrheit, sondern ist Lebenslüge die einzige Möglichkeit des Lebens, von dessen Stoff die Träume und die Illusionen nicht abzulösen sind.

«Die Stühle» – eine Ehegeschichte? Im tiefsten ist es ein Drama der Zeit. Denn die Zeit ist es, durch deren Walten die Gefühle sich abnutzen, die Erinnerungen verkümmern und sich verändern, Erlebnis zu Geschichte wird, dann zu mechanisch abschnurrender Wiederholung nicht des Erlebnisses, sondern der verfestigten Geschichten, die dem schwachen Gedächtnis Konturen bieten.

Trägerschaft

Trägerschaft

Stadt Biel

Stadt Solothurn (mit Unterstützung von Kanton und Gemeinden der Repla Solothurn)

Kanton Bern

Gemeindeverband Kulturförderung Biel/Bienne-Seeland-Berner Jura

Impressum

Impressum

Aufführungsrechte:
Theater-Verlag Desch GmbH, Berlin | www.felix-bloch-erben.de

Herausgeber:

Theater Orchester Biel Solothurn TOBS!

www.tobs.ch

Saison 2024/25

Programm Nr. 3

 

Intendant: Dieter Kaegi
Schauspieldirektion: Olivier Keller | Patric Bachmann
Redaktion: Patric Bachmann
Übersetzung: Stefanie Günther Pizarro

Gestaltung: Republica AG

Fotos: Joel Schweizer

Fotoauswahl: TOBS!

Dezember 2024

 

Urheberrechte: Inhaber*innen von Urheberrechten, die vor Drucklegung nicht erreicht werden konnten, werden gebeten sich zu melden. Fotografieren, Filmen sowie Tonaufnahmen sind während der Vorstellung aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.

 

Fotografieren, filmen sowie Tonaufnahmen sind während der Vorstellung aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.

 

Die Veranstaltungsplakate können an der Theaterkasse erworben werden.

 

Wir freuen uns über Ihre Rückmeldung zur Inszenierung: direktion[at]tobs.ch.

 

Textnachweis: «Das Paar und die Leere», aus: Ionesco, François Bondy, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1975