Interviews

Orlando

Neoklassizismus meint sehr vereinfacht gesagt die verfremdete oder parodierte Verwendung klassischer Werke oder Kompositionstechniken in der Neuen Musik. Wieso hat sich Igor Strawinsky in seiner einzigen abendfüllenden Oper ausgerechnet für diesen Stil entschieden? 

Yannis Pouspourikas: Ich finde es interessant, dass ausgerechnet Strawinsky, nachdem er 1913 mit «Le sacre du printemps» die Tonalität gesprengt hatte, wenig später zu dieser fast «altmodischen» Tonsprache zurückkehrte. Nach der traumatisierenden Erfahrung der beiden Weltkriege steckte die europäische Musikwelt in einer Krise: Wie sollte es weitergehen? Welche künstlerischen Auswege gab es aus dieser kriegszerrütteten Welt? Praktisch zeitgleich fanden Komponist*innen zwei komplett verschiedene Lösungsvorschläge: Die Zwölftonmusik und den Neoklassizismus. Während die einen die radikale Flucht nach vorn wagten, kehrten die anderen in eine vertraute, «heile» Welt zurück. So auch Strawinsky. Seine neoklassizistische Schaffensphase begann 1920 mit dem Ballett «Pulcinella» und fand 1951 mit «The Rake’s Progress» ihren Höhepunkt. Als instrumentale Basis nutzt Strawinsky einen Orchesterapparat, der stark an Mozart oder Haydn erinnert. Ich denke, er tat dies unter anderem im Dienst der Geschichte: So nimmt er uns klanglich – wenn auch angereichert mit Strawinskys Harmonik – mit ins London des 18. Jahrhunderts. 

 

Der Komponist sah 1947 in Chicago William Hogarths Bilderzyklus «A Rake’s Progress» und fand darin die Inspiration für seine Oper. Inwiefern unterscheidet sich die Geschichte von Tom Rakewell bei Hogarth und Auden/Strawinsky? 

Maria Riccarda Wesseling: Für mich gibt es ganz klare Unterschiede in der Erzählweise und in der Charakterisierung der Figuren: Bei Hogarth ist Tom Rakewell ein Ruchloser, der ohne Rücksicht auf Verluste tut, was er will, und lauter betrogene Menschen zurücklässt. Bei Auden und Strawinsky dagegen ist Tom ein arbeitsscheuer, neugieriger Draufgänger, der sich unglaublich gerne von Nicks Ideen begeistern und verführen lässt. Als Nick ihn ins Bordell führt, hat er schnell Gewissensbisse. Nach der Nacht mit Mother Goose verstrickt er sich zunehmend in Schuld und Scham und es wird ihm nicht gelingen, sich daraus zu befreien. Bei Hogarth ist Tom unmoralisch, bei Auden und Strawinsky selbstzerstörerisch. 

 

Inwieweit greifen die Inszenierung und das Bühnenbild Hogarths Zyklus auf? 

MRW: Es ist so aussergewöhnlich, dass wir genau wissen, was beim Komponisten den Blitz der Inspiration ausgelöst hat! Deshalb wollten Martin Hickmann und ich unbedingt Bezug darauf nehmen. Niederfahrende Blitze und die erdrückende Enge der Räume in Hogarths Kupferstichen haben Martin zu unserem Bühnenbild inspiriert, das Toms inneren Seelenraum darstellt. Als ich die schwarzen, blitzartigen Linien auf grauem Grund zum ersten Mal gesehen habe, brachte ich sie sofort mit Toms Blutbahnen in Verbindung, was den Aspekt des Im-Menschen-Drinseins bildlich verstärkt. 

 

Der Komponist fordert die Regie von «The Rake’s Progress» auf, den Aspekt der Fabel, beziehungsweise das Allegorische der Geschichte nicht aus den Augen zu verlieren. Wie gehst Du mit dieser Forderung um? 

MRW: Dieser Hinweis hat sich für mich sofort verbunden mit den sinnbildlichen Namen der Rollen: Shadow, Trulove, Rakewell usw. Die dementsprechend als Allegorien verstandenen Figuren zusammen mit dem selbstzerstörerischen Charakter der Hauptfigur weckten in mir das Bild der inneren Bühne. Im näheren Kennenlernen des Stücks hat sich für mich immer mehr herauskristallisiert, dass sich alle beteiligten Figuren wie Persönlichkeitsteile von Tom verhalten. Dabei schafft dieser es nicht, den Teilen in sich Raum zu geben, die ihn versuchen aufzumuntern oder ihm eine positive Wendung vorschlagen möchten – wie zum Beispiel Anne – sondern er lässt sich immer wieder von seinen destruktiveren inneren Stimmen leiten und verführen – wie von seinem Schatten/Shadow. Dieser Grundgedanke zieht sich wie ein roter Faden durchs Stück, bis ganz zum Schluss, wenn alle Figuren gemeinsam singen: «So let us sing as one», bevor sie die Moral von der Geschichte verkünden.