«Neue Körper am Ende der Welt» entsteht im Austausch zwischen der Autorin Regina Dürig, Bieler Kulturpreisträgerin 2023, und der Regisseurin Marion Rothhaar. Es ist die Weiterentwicklung eines langjährigen Projekts, das sich mit den so genannten Magglingen-Protokollen beschäftigt und mit Marion Rothhaars Biografie als Ex-Spitzensportlerin und Olympiateilnehmerin.
| 2024/2025 Schauspiel
Neue Körper am Ende der Welt
Die Bieler Regisseurin Marion Rothhaar war deutsche Meisterin in der Rhythmischen Sportgymnastik und 1988 Olympiateilnehmerin. Ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen und den Erlebnisberichten der Sportlerinnen aus den Magglingen Protokollen in «Das Magazin», reflektiert sie die erlebten Mechanismen dieser Sportarten. Die Bieler Kulturpreisträgerin 2023 Regina Dürig hat dazu Bühnentexte geschrieben. Sie benennen Licht und Schattenseiten einer glitzernden Sportwelt: poetisch und rhythmisch.
Was bedeutet Dir der Spitzensport persönlich, was für Werte siehst du im Spitzensport?
Regina: Ich bin absolut unsportlich, das heisst, ohne Bewegungsdrang und Freude an Überlegenheit auf die Welt gekommen. Ich bin also ziemlich weit entfernt vom Spitzensport – sogar als Konsumentin. Mich entspannt es wirklich kein bisschen, zuzuschauen, wie ein Mensch, der unglaublich hart trainiert hat, um in einem bestimmten Moment etwas Bestimmtes zu tun, scheitert. Ich sehe alles einstürzen in den Sportler*innen, aber dann ist schon die nächste Person im Bild, die versucht, in einem bestimmten Moment eine bestimmte Leistung abzurufen. Der Grossteil der Spitze besteht aus dem Nicht-Erreichen dessen, was man sich vorgenommen, worauf man hingearbeitet hat. Der Wettkampf, der schmale Spalt, zu dem eine Ambition früher oder später wird, ist also gar nicht meins. Womit ich mich identifizieren kann, ist die vollkommene Konzentration auf ein Feld oder Thema. Das ganze Leben darauf ausrichten, um eine Sache absolut durchdringen zu können. Sagen wir: die nach innen gerichtete Spitze. Wo es nicht ums Vergleichen geht, sondern um Meister*innenschaft für einen selbst. Daraus folgend Selbstvertrauen, Selbstverständlichkeit, an einen Ort zu gehören, ihn zu füllen, aufrichtige Begeisterung.
Inwiefern gibt es Parallelen zwischen Schriftstellerei und Kunstturnen?
Regina: Ich befürchte, die Antwort wird in jedem Fall anmassend. Weil ich natürlich oberflächliche Parallelen ziehen kann wie das Streben nach Präzision oder das Aufwenden des ganzen Lebens für eine spezifische Tätigkeit, aber in die Tiefe halten diese Vergleiche nicht. Ich muss nicht üben im Sinn von: unununzählige Male das exakt Gleiche tun. Ich muss nicht trainieren im Sinn von: dem Körper etwas abverlangen, was er von sich aus nicht tun kann. Ich muss mich nicht messen im Sinn von: in zwei spezifischen Minuten eine Leistung bringen, die nach einer festgelegten Skala mit Punkten bewertet wird. Wenn wir den Körper ausblenden und von einer abstrakten Vorstellung ausgehen, könnte es die Verdichtung sein, die mich mit dem Kunstturnen verbindet: in kurzer Zeit mit grösstmöglicher Eleganz alles zeigen. Ich liebe die ultrakurze Prosa, beispielsweise von Lydia Davis, die hat für mich etwas Ähnliches – eine Idee in perfekter Vollendung, ohne Umwege, Abschweifungen oder überflüssige Gesten.
Welche Herausforderungen stellt das Schreiben für die Bühne?
Regina: Wenn ich Prosa schreibe, schreibe ich ja gewissermassen in die Leser*innen hinein – die Geschichte, die Bilder entstehen in ihrem Inneren. Das geschieht natürlich im Verborgenen, ist aber trotzdem unmittelbar. Es ist eine Art zu flüstern. Das Schreiben für die Bühne ist ungewohnt, weil es einen tatsächlichen Raum gibt, in dem das, was ich mir ausdenke, eine tatsächliche Gestalt hat. Ich kann nicht flüstern, muss Distanz überbrücken. Darin habe ich weniger Erfahrung, kann nicht so gut einschätzen, wie die Wirkung im Raum ist. Vor allem, weil der Text nicht über Figuren funktioniert, sondern eine Art Gedankenfläche ist. Das hat Vorteile, weil ich mich von den Inhalten, der Recherche, dem Klang leiten lassen kann. Der Nachteil ist, dass sich nicht aus dem Geschriebenen heraus ableiten lässt, was stimmig ist im Text und was nicht. Aber es ist aufregend, zu sehen, was in der Verkörperung durch die Schauspielenden und in der Inszenierung geschieht.
Welche Rolle spielt der Sport in Deinem Leben?
Marion: Ich mache gerne Sport aber sehr unregelmässig, undiszipliniert und nur noch zum Spass oder um gesund zu bleiben - Freizeitsportarten wie Schwimmen, Radfahren oder Yoga. Die Tatsache, dass ich mich seit einiger Zeit mit sportlichen Themen auf der Theaterbühne beschäftige und selbst auf der Bühne stehe, hat mich wieder etwas mehr in Bewegung gebracht. Es gibt den Plan (bzw. den Vorsatz für das neue Jahr), ins Boxtraining zu gehen, das scheint mir der effektivste Sport, um fit zu werden.
Was hat die Lektüre der «Magglingen Protokolle» bei Dir ausgelöst?
Marion: Ehrlich gesagt, war ich nicht wirklich überrascht aber gleichwohl überwältigt von der Menge des Leids. Die Ausführungen der Sportlerinnen haben mich sehr berührt und dann getriggert. Ich spürte, dass ich diesen Stoff auf die Bühne bringen muss, aus meinem heutigen Blickwinkel als Theaterfrau und ehemaliger Spitzensportlerin. Als Kind inmitten des Systems Leistungssport merkt man gar nicht - oder erst sehr viel später - wie viele Dinge da eigentlich falsch laufen. In der Zusammenarbeit mit der Autorin Regina Dürig sind einige mitunter auch traumatische Erfahrungen an die Oberfläche gekommen, die sich mit denen der jungen Frauen aus den Magglingen-Protokollen überschneiden und Eingang in den Stücktext fanden.
Welche Art von Reaktionen erhoffst du dir auf deine Theaterarbeiten?
Marion: Als Zuschauerin möchte ich im Theater berührt werden und das wünsche ich mir auch von meinen Arbeiten: unterhalten und verführen, dabei anregen zum Denken und Fühlen, lachen oder weinen. Meine letzten Arbeiten behandelten (auto-)biografische Stoffe, die mir in einem grösseren Rahmen relevant erscheinen, weil sie reale Erfahrungen auf der Bühne plastisch machen. Diese können über den Bühnenrand und über sich hinausweisen, indem sie exemplarisch gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklungen zeigen und dabei zum Teil irritierende Fragen aufwerfen.
In «Neue Körper am Ende der Welt» dient das System Spitzensport als ein Beispiel für Forderungen der Leistungsgesellschaft und wirkt als Brennglas für Mechanismen von Druck, Macht und Kontrolle, die man gerne mal in Frage stellen darf.
Unser Tipp:
Das Restaurant «End der Welt» liegt malerisch eingebettet in der unberührten Landschaft von Magglingen, umgeben von zahlreichen Sport- und Freizeitanlagen. Hier treffen sich bekannte Athlet*innen und andere Gäste in entspannter Atmosphäre.