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Vibrierende Musik

SONOS, die Zeitschrift des Schweizerischen Hörbehindertenverbandes, hat mit unserem Inklusionsverantwortlichen Christoph Brunner ein Gespräch geführt.

Können Sie die Geschichte hinter der Idee erzählen, Aufführungen mit Vibrationswesten anzubieten? Wie kam es zu diesem einzigartigen Konzept?

Vibrationswesten werden in der Gamer- und Clubszene seit einigen Jahren eingesetzt, v.a. in angelsächsischen Ländern. Im klassischen Konzertbereich sind sie noch eher selten anzutreffen: In der Schweiz besitzt einzig die Sinfonietta Lausanne ein Set von Westen. Diese leihen wir für unsere Veranstaltungen jeweils aus.

Bei TOBS! organisieren wir neben Angeboten für sehbehinderte resp. blinde oder neurodivergente Menschen auch Schauspielproduktionen mit Verdolmetschung in Gebärdensprache. Vom Konzertbereich waren gehörlose oder hörbehinderte Personen bis vor kurzem jedoch ausgeschlossen. Im Herbst 2023 haben wir daher begonnen, mit den Westen aus Lausanne erste Erfahrungen zu sammeln und möchten dieses Angebot sukzessive ausbauen.

Können Sie die Funktionsweise und das besondere Erlebnis für gehörlose Menschen mit der Vibrationsweste beschreiben?

Die Westen übertragen die Schwingungen der Musik in Vibrationen, die auf den Körper übertragen werden: Die Musik wird mit einem Mikrofon aufgenommen und das Signal auf kleine Oszillatoren übertragen, die in den Westen eingebaut sind. Diese funktionieren ähnlich wie ein Lautsprecher, nur dass sie eben nicht laut, sondern leise sprechen... Die Westen werden eng am Körper getragen, so dass die Schwingungen gut spürbar sind (auf Knochen wie Schulterblättern, Schlüsselbeinen oder Hüften, aber auch an Bauch oder Brust).

Die Westen reagieren sehr genau auf Veränderungen der Laustärke, dadurch werden Steigerungen oder stark rhythmische Passagen sehr gut spürbar. Trotz der Distanz zum Orchester überträgt sich der Klang so also ganz wortwörtlich auf den Körper – das ist auch für hörende Personen eine tolle Erfahrung!

Was waren einige der grössten Herausforderungen bei der Implementierung der Vibrationswesten und wie haben Sie diese überwunden?

Es gibt noch einige technische Hürden: So werden hohe Frequenzen von den Westen kaum übertragen, bei Musik in grosser Besetzung entsteht oft ein gleichförmiger Resonanzteppich und einige Personen wünschen sich, dass die Vibrationen am ganzen Körper spürbar sind und nicht nur an einzelnen Stellen. Hier entwickeln wir laufend Verbesserungen, beispielsweise durch die Transposition von Frequenzen, durch eine gute Stückauswahl und durch zusätzliche Hilfsmittel wie Ballone, die auch für hörende Personen eine Bereicherung darstellen.

Die grösste Herausforderung ist aber, wie wir einen emotionalen Bezug zur Musik herstellen können: Die physisch spürbare Schwingung alleine garantiert ja noch keinen Kunstgenuss. In der Clubszene ist das weniger relevant, da geht man hin um zu tanzen. Bei Konzertmusik muss der Bezug zur Musik und zu den Aufführenden jedoch anders hergestellt werden. Momentan versuchen wir, dies vor allem über Texte herzustellen (sei es ein Liedtext oder eine Moderation). Auch eine Übersetzung der Musik (und nicht nur des Textes!) in Gebärdensprache hilft da sicher.

Haben Sie Ratschläge für andere, die ähnliche inklusive Technologien oder Programme in Betracht ziehen?

Neben den bereits beschriebenen Herausforderungen scheinen mir zwei Dinge zentral: Einerseits ein ständiger Austausch mit Expert*innen in eigener Sache. Nur so erfährt ein Veranstalter, ob seine Massnahmen auch bei der Zielgruppe ankommen und deren Bedürfnisse abdeckt. Und andererseits empfehle ich allen Akteur*innen, sich auch untereinander auszutauschen, um Erfahrungen und Material zu teilen, gemeinsam die Angebote zu bewerben und das Knowhow nachhaltig in den Institutionen zu verankern.

Was hat Sie am meisten an den Rückmeldungen überrascht, die Sie erhalten haben?

Einerseits die Wichtigkeit eines visuellen Bezugs: Die Besucher*innen wollen sehen, wer den Klang herstellt, den sie am Körper spüren! Und diese Zuordnung ist für gehörlose Personen gar nicht so einfach - gerade in einem Sinfonieorchester passiert so viel auf einmal...

Und dann hat mich auch die wiederkehrende Frage nach dem Inhalt oder dem Sinn eines Musikstücks erstaunt: Wir Hörenden lassen uns oft auch ohne Hintergrundinformationen auf ein Stück ein und lassen uns von der Musik treiben.

Können Sie eine denkwürdige Erfahrung oder Geschichte einer gehörlosen Person erzählen, die die Vibrationsweste benutzt?

Meine erste Begegnung mit den Vibrationswesten fand in einer offenen Probe der Sinfonietta Lausanne statt. Gehörlose Besucher*innen konnten verschiedene Modelle der Westen ausprobieren, im Orchester umhergehen und die Instrumente berühren während sie gespielt wurden usw. Die Atmosphäre war entspannt und es wurde angeregt in Laut- und Gebärdensprache kommuniziert, als plötzlich zwei Besucher ganz aufgeregt auf eine Musikerin zeigten: Die Klarinettistin hatte während eines kleinen Solos ihren Oberkörper sanft hin und her bewegt – was die beiden (von Geburt an gehörlosen Besucher) sehr stark berührte: Dass das eigene Musizieren eine Person buchstäblich bewegt, hat offenbar auf sie so starken Eindruck gemacht, dass sie ganz aus dem Häuschen waren und in der Pause der Musikerin eindringlich Fragen zu diesem kleinen «Tanz» gestellt haben.

Was waren bisher Ihre schönsten/interessantesten Erfahrungen mit Gebärdensprache und/oder gehörlosen und schwerhörigen Menschen?

Das ist schon eine Weile her: Vor ziemlich genau 20 Jahren durfte ich für das Figura-Festival in Baden ein Soloprogramm für Schlagzeug entwerfen. Mich hat dabei die Verbindung von musikalischen Gesten mit den sprachlichen Gesten der Gebärdensprache interessiert - und so ist es letztendlich ein Duoprogramm mit Brigitte Schökle (die heutige Geschäftsführerin der IGGH) geworden. Es war meine erste derartige Zusammenarbeit und sie war gleichzeitig herausfordernd und sehr berührend!

Was erhoffen Sie sich für die Zukunft des Programms? Gibt es neue Ideen oder Initiativen, auf die Sie gespannt sind?

Einerseits möchten wir mehr Angebote organisieren können und diese noch besser auf die Bedürfnisse von gehörlosen Personen ausrichten. Darüber hinaus träume ich jedoch auf davon, dass die Inklusion auf der Bühne ankommt und wir in Zukunft vielleicht auch mit gehörlosen Darsteller*innen in einer Produktion arbeiten können.

«Ich bin seit 2021 Verantwortlicher Inklusion bei TOBS! und gleichzeitig Beauftragter für Chancengleichheit und Inklusion der Hochschule der Künste Bern HKB. Bei TOBS! kümmere ich mich in erster Linie um Fragen die Zugänglichkeit unserer Veranstaltungen, aber auch der Barrierefreiheit der Gebäude und der Kommunikation. An der HKB leite ich zudem auch eine Weiterbildung zu Musikunterricht für Menschen mit Behinderungen (CAS Enseignement musical et besoins particuliers).»

 

Christoph Brunner, Verantwortlicher Inklusion und Diversität

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