Breite Pinselstriche, engmaschige Netze
Dirigent Paul Mann über den Doppelabend mit Flury und Ravel
Flurys «Eine florentinische Tragödie» und Ravels «L’Heure espagnole» unterscheiden sich in vielem. Wie kommen diese beiden zusammen?
Als Flurys Oper vorgeschlagen wurde, war mein erster Gedanke: Warum nicht diese Tragödie über Ehebruch mit einer Komödie über dasselbe Thema verbinden? Das war eigentlich der Grund, uns für Ravels «L’Heure espagnole» zu entscheiden. Zufällig hat Ravel ja auch gerade seinen 150. Geburtstag gehabt. Musikalisch liegen die beiden Werke allerdings weit auseinander. Flury war im Grunde ein Romantiker, der stilistisch eher in einer früheren Epoche verankert war als in seiner eigenen Zeit. Seine Musik vereint verschiedene Einflüsse, aber sie zeigt zugleich eine sehr persönliche Handschrift. Dies hängt vielleicht auch mit seiner Herkunft zusammen: Die Schweiz ist von so vielen Einflüssen aus anderen Ländern geprägt und hat dennoch eine starke eigene Identität bewahrt. Das ist möglicherweise auch ein prägender Faktor in seiner Musik.
Ravel dagegen ist einer der individuellsten Komponisten überhaupt. Man erkennt seine Musik nach wenigen Noten. Und im Musiktheater arbeitet er völlig anders: Während Flury eher grossflächig und frei komponiert, ist bei Ravel alles fein vernetzt, motivisch durchdacht – wie bei einem Schweizer Uhrmacher.
Für die meisten in unserem Team ist Richard Flury eine aufregende Neuentdeckung.
Ich kann dem nur zustimmen, die Begeisterung war bei allen sofort spürbar! Viele aus dem Orchester kamen nach den ersten Proben zu mir: «Das ist wirklich schön – warum haben wir das noch nie gespielt?» Flurys Musik sollte doch viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Zumal er ja sogar aus dieser Region kommt!
Du selbst bist hingegen schon lange mit Flurys Musik vertraut und hast viele seiner Werke aufgenommen, auch die «Florentinische Tragödie».
Ja, ich habe sehr viel von Flury aufgenommen, unter anderem drei seiner vier Opern und alle Sinfonien. Urs Joseph Flury, der Sohn des Komponisten, hat sich mit unglaublicher Hingabe dafür eingesetzt, dass Flurys Musik wieder gehört wird. Ohne seine enorme Unterstützung und die finanziellen Mittel, die er aufgebracht hat, wären viele dieser Aufnahmen wahrscheinlich nie entstanden. Aber man muss hinzufügen: Die Werke verdienen es wirklich, gehört zu werden. Auch andere Dirigenten haben inzwischen Aufnahmen gemacht, was das wachsende Interesse an Flury zeigt. Es wäre natürlich schön, wenn sie nicht nur aufgenommen, sondern auch häufiger aufgeführt würden. Für mich persönlich ist es ein ganz besonderes Erlebnis, Flurys Musik nun auf die Bühne zu bringen. Es ist eine völlig andere Erfahrung als im Aufnahmestudio. Dort wird die Musik in kleinteiligen Abschnitten aufgenommen, im Theater dagegen kann sie frei fliessen und sich voll entfalten. Diese Freiheit in der Musik, die Flury mit seinen breiten Pinselstrichen gestaltet hat, lässt sich erst bei einer Aufführung so richtig erleben.
Und wie ist es bei Ravel?
Auch sehr bühnenwirksam – aber ganz anders. Bei Ravel ist alles sehr engmaschig vernetzt, mit vielen motivischen und klanglichen Beziehungen, die aufeinander aufbauen und miteinander verbunden sind. Technisch ist «L'Heure espagnole» übrigens eines der kompliziertesten Werke für einen Dirigenten! In fast jedem Takt gibt es eine neue Herausforderung, sei es durch häufige Wechsel der Taktarten oder durch kleine Fermaten, Verzögerungen und Beschleunigungen. Gleichzeitig ist es ein Stück voller Humor, das mit einer Vielzahl versteckter Zitate spielt, von «Carmen» bis Chopin. Da wird nicht nur das musikalische Erbe zitiert, sondern sich auch oft ein wenig darüber lustig gemacht. Ravel hat ein technisch akribisch durchdachtes Werk geschaffen, das sehr strukturiert und detailverliebt ist.
Flurys Musik dagegen fliesst in längeren, entspannenden Passagen, die viel weniger Eingriffe vom Dirigenten verlangen. Auch das ist ein schöner Kontrast zwischen den beiden Werken.
Wie gestaltet sich die Arbeit mit dem Team?
Die Zusammenarbeit ist für mich eine der wichtigsten Komponenten. Anna Magdalena Fitzi hat sich das Konzept, Flury und Ravel miteinander zu verbinden, auf eine ganz praktische Weise zu eigen gemacht. Sie hat es geschafft, die beiden sehr unterschiedlichen Werke dramaturgisch miteinander zu verknüpfen und dabei auch die begrenzte Bühnenfläche sinnvoll zu nutzen. Und so sind die beiden Stücke am Ende viel stärker miteinander verbunden, als ich das erwartet hatte. Das ganze Ensemble war von Anfang an hochmotiviert und hat die Herausforderungen der Stücke mit Hingabe angenommen. Man merkt, dass alle mit Freude und Engagement bei der Sache sind, was sich positiv auf das gesamte Projekt auswirkt. Für mich ist es auch sehr wichtig, mit einem Team zu arbeiten, das sich gegenseitig unterstützt und mit Leidenschaft bei der Sache ist. Wenn man langsam ein gewisses Alter erreicht, möchte man nur noch an Projekten arbeiten, die einem Freude bereiten. Dieses gehört definitiv dazu, und ich freue mich, dass wir es gemeinsam auf die Bühne bringen.

Paul Mann
Musikalische Leitung
Der britische Dirigent Paul Mann ist Erster Gastdirigent der Lemberger Nationalphilharmonie und macht Aufnahmen für Toccata Classics. Als regelmässiger Gast vieler grosse Orchester in der ganzen Welt dirigierte Paul Mann das London Symphony Orchestra, Royal Liverpool Philharmonic, Royal Scottish National Orchestra, die Orchester der BBC, die City of Birmingham Symphony, das English Chamber Orchestra, The Hallé, das New York City Ballet, das Philharmonische Orchester Bergen, das Luxembourger Philharmonic, das Netherlands Radio Philharmonic, das St. Petersburg Philharmonic, das RAI Torino, das Orchestra dell'Arena di Verona, das Flemish Radio, das Copenhagen Philharmonic, das Orchestre de Bretagne, das Orquesta Ciudad de Barcelona, das Orquesta Ciudad de Granada und viele andere…
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