«Dieses Mädchen hat etwas verstanden, was manch andere im Leben nicht verstehen»
Regisseurin Isabelle Freymond über «Das Tagebuch der Anne Frank»
Das Tagebuch der Anne Frank ist weltbekannt, die Oper von Grigori Frid dagegen kennen eher wenige. Wie bist du an dieses Werk herangegangen?
Ich habe das Tagebuch, mit dem ich mich schon als Teenager intensiv beschäftigt hatte, nochmal gelesen und mir dann ziemlich oft die ganze Oper angehört. In der ersten Stunde habe ich einfach die Augen geschlossen und Bilder kommen lassen. Danach habe ich meine Ideen aufgeschrieben und dann das Libretto durchgelesen. Über diese Bilder, die Musik und die Texte sind nach und nach konkrete Vorstellungen entstanden. So habe ich mich dem Ganzen angenähert: sehr intuitiv und aus der Stille heraus.
Ein Tagebuch in einer Stunde auf die Bühne zu bringen, ist ja ein riesiges Wagnis. Aber je länger ich mich mit Frids Oper befasse, desto mehr merke ich, wie klug er seine Auswahl der Tagebucheinträge getroffen hat. Ich entdecke beim Inszenieren immer wieder, wie grossartig das gebaut ist, wie Stimmungen wiederkehren, sich überlagern, ineinander fliessen.
Anne war dreizehn Jahre alt, als sie begann, ihr Tagebuch zu schreiben. Wie setzt du diesen Übergang vom Kind zur Jugendlichen in Szene?
Anne ist zu Beginn Teenie, aber doch vor allem noch Kind. In der Inszenierung wollte ich dieses Kindliche sichtbar machen: Da gibt es noch ein Kuscheltier, es gibt dieses «Juhuu!» und die volle Energie. Aber dann wird sie innerhalb kürzester Zeit aus ihrer Kindheit gerissen und mit diesem Verstecken-Müssen in eine Situation gedrängt, die gerade für Jugendliche schlimm ist. Erwachsene können vieles leichter einordnen, aber Teenager müssen raus, sie müssen sich reiben an der Gesellschaft, an anderen Jugendlichen, sich entfalten, um eigenständig zu werden. Diese Möglichkeit hatte sie nicht. Und doch ist sie unglaublich reflektiert und weise. Mich beeindruckt, wie sie über diese zwei Jahre hinweg ihre Entwicklung so bewusst beschreibt und in Worte fassen kann.
Deine Inszenierung bleibt in der Zeit von Anne Frank. Welchen Bezug zur Gegenwart hat sie?
Der eigentliche Bezug zur Gegenwart wird erst am Schluss sichtbar. Neben Anna Beatriz Gomes als Anne Frank stehen auch sieben Mitglieder vom Jungen Theater Biel mit auf der Bühne. Zuerst sind sie als Schatten und Gestalten mit dabei, sie stehen für Veränderung, Bedrohung, eine dunkle Energie, die plötzlich in das Leben einbricht. Dann bauen sie die Bühne um, erscheinen mal als Silhouette von Annes Vater, der Nachrichten hört, mal als Passanten auf der Strasse. Aber am Ende zeigen wir sie als Jugendliche und junge Erwachsene aus verschiedenen Epochen, von Anne Franks Zeit bis heute. Junge Menschen, die auf Anne Franks Schicksal schauen und uns klarmachen: Es geht uns alle an.
Der grösste Teil der szenischen Probenarbeit, bevor das Orchester dazukommt, findet aber in einer sehr kleinen Gruppe statt. Die Arbeit mit Anna als Anne Frank ist für mich grossartig. Ich bin grosse Gruppen gewohnt, und mit «nur» einer Solistin zu arbeiten, ist etwas ganz Besonderes, intim, konzentriert, voller Energie. Wir sind ein kleines Team: Verena und ich, Francis, abwechselnd Riccardo oder Fernando, Damien und natürlich Anna. Und das funktioniert einfach sehr gut. Die Probenarbeit ist so intensiv und lebendig, weil alles drin ist in diesem Stück: Es ist so tragisch, dass es mich manchmal zum Weinen bringt. Aber in den Szenen am Anfang, in denen Annes Welt noch halbwegs in Ordnung ist, haben wir auch viel gelacht.
Ich komme ja eigentlich nicht aus der Oper, sondern aus dem Sprech- und Bewegungstheater. Umso mehr Freude macht es mir, hier so theatermässig an die Arbeit zu gehen. Und ich merke, dass Anna voll darauf anspringt. Sie spielt einfach fantastisch, geht auf alles ein und hat auch eigene Ideen.
Wie erlebst du die Zusammenarbeit zwischen Anna als Solistin und den Jugendlichen vom Jungen Theater Biel?
Das hat sofort funktioniert. Die Jugendlichen sind total motiviert, und mit Anna hat es von Anfang an gestimmt. Ich war richtig beglückt; schon bei der ersten gemeinsamen Probe mit ihr und dem jungen Ensemble war es so, als hätten wir schon ewig in dem Team miteinander gearbeitet. Die waren so toll mit Anna, und Anna mit ihnen.
Ich wünsche mir, dass auch junge Menschen im Publikum sich für das Stück begeistern. Weil Junge auf der Bühne stehen, kann der Funke noch stärker überspringen. Die Oper dauert nur eine Stunde und ist inhaltlich so stark! Wenn man junge Menschen für Oper gewinnen will, dann braucht es Stücke wie dieses. Ich selbst habe Anne Franks Tagebuch auch als Teenager zum ersten Mal gelesen. Durch meine eigene Familiengeschichte und Herkunft bin ich früh sensibilisiert worden für die schlimmen Dinge, die während der Nazi-Herrschaft geschehen sind. Da hat mich das Tagebuch umso mehr getroffen, das ist mir richtig eingefahren. Dieses Mädchen hat etwas verstanden, was manch andere im Leben nicht verstehen. Woher auch immer sie diese Kraft oder Weisheit hatte: Sie hatte immer wieder diesen Optimismus und den Blick auf das Schöne, trotz der absoluten Misere! Es ist auf vielerlei Ebenen beeindruckend, dieses Stück. Und ich merke, dass die Vorbereitung das eine war, aber jetzt in den Proben macht es etwas mit mir. Ich spüre es sogar am Schlaf, nicht weil ich schlecht träume, sondern weil es mich innerlich verändert.
Ich denke natürlich auch an die heutige Weltlage, weil das alles leider sehr aktuell ist. Wer einigermassen aufmerksam ist, merkt das von selbst. Und durch die Jugendlichen auf der Bühne kommt der Bezug zum Heute. Es ist für mich schon etwas Besonderes, mit den Profis und mit den Jugendlichen gemeinsam an diesem Stoff zu arbeiten. Grundsätzlich stehen in der Oper viele ältere Menschen auf der Bühne. Wenn wir Junge abholen wollen, dann darf es auch auf der Bühne selbst etwas davon geben. Allerdings: Die Anna als Anne Frank… die passt perfekt, hey!

Isabelle Freymond
Inszenierung
«Das junge Mädchen hörbar machen»
Dirigent Francis Benichou über die Arbeit an Grigori Frids «Das Tagebuch der Anne Frank»
Wie vertont Grigori Frid das Tagebuch der Anne Frank?
Frid hat aus dem Tagebuch einzelne Passagen herausgegriffen und daraus 21 Nummern in vier Szenen geformt. Dabei steht das Tagebuch selbst, die Worte der Anne Frank, immer im Zentrum. Musikalisch ist dabei vor allem auffällig, wie heterogen seine Tonsprache ist. Frid probiert ganz verschiedene musikalische Idiome aus, nutzt dabei auch traditionelle Elemente in seiner grundsätzlich modernen Tonsprache. Dadurch hat jede Nummer trotz motivischer Gemeinsamkeiten einen eigenen Stil. Manche Passagen klingen fast tonal, besonders die Melodien der Gesangsstimme, während das Orchester oft dodekaphone Linien spielt, zum Beispiel in Momenten der Gefahr. Dann gibt es wiederum ein Motiv, das wie eine militärische Fanfare wirkt. Es gibt auch lautmalerische Effekte wie die Westerturm-Glocke, die Anne in ihrem Versteck hört, oder den Regen auf der Strasse. Letzterer wird mit Celesta umgesetzt, einem Tasteninstrument, das sich durch seinen perlenden Klang gut für die Imitation der Regentropfen eignet. Aber besonders prägnant ist das Hauptmotiv, mit dem die Oper beginnt: ein Ganztonschritt nach oben, ein Halbton zurück. Das zieht sich leitmotivisch durch das ganze Werk, auch in seiner Umkehrung. Insgesamt scheint Frid mit allem, was es in der Musikgeschichte gab, gespielt zu haben.
Auch das rhythmische Spektrum ist sehr vielseitig: Es gibt sogar Stellen, wo der Rhythmus ganz freigelassen wird. Dort singt oder spricht die Sängerin frei über dem Orchester. Dazu kommen Passagen, wo jedes Instrument des Orchesters mehrere Pattern wiederholt, so oft und so schnell es möchte, so dass wir dort gar keine rhythmische Struktur mehr haben. Das zeigt, wie weit Frids Ausdrucksspektrum reicht!
Das gilt auch für die Rolle der Anne Frank. Sie ist ja hier die einzige Solistin, und auch bei ihr setzt Frid viele unterschiedliche Ausdrucksmittel ein. Neben dem Gesang enthält die Partie intonierten Sprechgesang oder das ganz gesprochene Wort. Das macht sie sehr vielseitig.
Hast du eine musikalische Lieblingsstelle in der Oper?
Ja! Den Walzer, wenn Anne von Peter spricht. Durch seine melodiöse Anlage sticht er in dieser traurigen, berührenden Oper heraus. Er wirkt wie eine Insel, wie der Traum von einem normalen Leben. Denn was macht man mit einer Person, in die man verliebt ist? Man geht tanzen. Aber das kann Anne in ihrem Versteck ja nicht. Im Rezitativ davor hören wir zudem kleine Sexten, das ist ein Intervall, das schon in der vormodernen Musik für die Sehnsucht stand. Auch an anderen Stellen erscheinen Sexten meist dann, wenn Anne von Hoffnung oder Sehnsucht spricht. Hier sehen wir einen klaren Bezug zur Tradition.
Wie erarbeitest du diese Oper?
Im Vorfeld habe ich mich natürlich intensiv mit der Partitur beschäftigt. Ich habe das Stück am Klavier durchgespielt, mit dem Klavierauszug gesungen und vor allem die Tempoangaben untersucht. Es gibt davon nicht sehr viele, und gerade deshalb werfen die, die es gibt, manchmal Fragen auf. Zum Beispiel, wenn nach einer bereits langsamen Nummer das nächste Stück mit «doppio meno mosso», also «halb so schnell», bezeichnet ist. Das wirkt zunächst seltsam. Aber bei genauerer Untersuchung der Musik lässt es sich dann doch erklären. So habe ich mir angeschaut, in welchem Tempo gewisse mehrfach aufgegriffene Melodien jeweils beim ersten Mal erscheinen, und die dortigen Tempoangaben bei den Wiederholungen ergänzt: Dort nehmen wir jetzt also immer ungefähr dasselbe Tempo wie beim ersten Mal. Die Passage vor dem «doppio meno mosso» war dadurch viel schneller als man zuerst dachte, und somit stimmte plötzlich die Relation wieder. Solche Überlegungen waren die Grundlage, von der aus ich später in den Proben freier werden konnte. Denn natürlich passt man dann das endgültige Tempo in der Zusammenarbeit noch an – mal ist für die Sängerin ein schnelleres oder langsameres Tempo hilfreich, mal für die Regie.
Wir spielen die Fassung für Kammerorchester mit neun Musiker*innen, die diesmal nicht im Orchestergraben sitzen. Wie beeinflusst das den Klang?
Die individuelle Musikalität jedes einzelnen Ensemblemitglieds kommt in dieser Besetzung besonders stark zum Tragen. Das macht die Arbeit an diesem Werk sehr reizvoll. Wir sitzen hinten auf der Bühne, also nicht wie sonst zwischen Sängerin und Publikum, sondern hinter Anna. Diese Positionierung ist spannend, denn dadurch entsteht eine besondere Nähe zwischen ihr und dem Publikum. Man hört sie unmittelbarer, sie kann wirklich mit feinsten Nuancen arbeiten, sogar flüstern, wie Frid es an manchen Stellen ausdrücklich verlangt. So können wir Anne Franks Zerbrechlichkeit sehr deutlich werden lassen.
Wie erlebst du das szenische Arbeiten an dieser Oper?
Mit Anna als einziger Sängerin sind wir bei den szenischen Proben ein sehr kleines Team, wodurch automatisch auch die Zusammenarbeit mit ihr besonders eng ist. Schön war, dass Isabelle auch schon bei einigen musikalischen Proben dabei war. Ich versuche umgekehrt, wann immer es möglich ist, bei den szenischen Proben dabei zu sein, damit wir jede interpretatorische Entscheidung gemeinsam diskutieren können. Denn in einem zentralen Punkt dieser Oper überschneiden sich die musikalische Arbeit und die Regie noch stärker als sonst: Beim Text, dem Tagebuch, denn der ist ein Zeitzeugnis. So habe ich neben rhythmischen und tonalen Fragen meine besondere Aufmerksamkeit auf Artikulation, Tonlänge, Stimmfarbe gelegt, um mit Anna eine deutliche und ausdrucksvolle Textdarstellung zu erreichen. Isabelle hebt ihrerseits über die Mittel der Regie den Text hervor. Da wir also grundsätzlich dasselbe Ziel haben, gelingt uns eine spannende Interpretation am besten durch enge Zusammenarbeit, weil wir so gegenseitig spüren, was der / die andere möchte. Gemeinsam können wir dann zum gewollten Ergebnis kommen, in jeder Phrase die Farbe und den Ausdruck zu finden, die berühren. So versteht das Publikum, was die echte Anne Frank ausdrücken wollte. Denn es geht darum, ihr Gehör zu geben, ihre Gedanken plastisch darzustellen, das junge Mädchen hörbar zu machen. Es ist anders als bei einem Libretto, das direkt für eine Oper geschrieben wird: Hier ist der Text selbst das Original. Zwar aufgrund von Übersetzungen, aber nah an dem, was die historische Anne Frank dachte. Das Schönste an der Zusammenarbeit ist, dass wir Anne Frank zum Sprechen bringen.

Francis Benichou
Musikalische Leitung