Interviews

«Die Zauberflöte ist wie ein Archiv»

Ein Gespräch mit Regisseurin Anna Drescher, Bühnen- und Kostümbildnerin Tatjana Ivschina und Dramaturg Maximilian Hagemeyer

Wie nähert man sich einem so immens bekannten Stück wie der «Zauberflöte»?
Anna Drescher: Das ist eine besondere Herausforderung. Das Stück hat ja eine lange Rezeptionsgeschichte und es gibt bereits unzählige Bilder dazu, die eigentlich jeder Mensch auch erwartet. Diese vertrauten Vorstellungen sind wie ein kulturelles Gedächtnis an die «Zauberflöte». Sie ist wie ein Archiv, wir alle lieben dieses Werk, wir alle tragen ein Stück davon in uns. Deshalb wollten wir diese vertrauten Bilder auch unbedingt aufnehmen. Allerdings tun wir das nicht 1:1, sondern als Teil eines Konzepts. Wir lassen alle bekannten Figuren auftauchen, genauso, wie man sie erwartet. Im Laufe des Stücks begeben sie sich jedoch auf eine Identitätssuche. Sie beginnen nach und nach, ihre Rollen und den Verlauf der Geschichte zu hinterfragen: Gibt es Wahrheit? Gibt es Gut und Böse? Funktionieren die zugeschriebenen Rollen überhaupt? Bin das wirklich ich? Wer bin ich eigentlich? 
Tatjana Ivschina: Das Bühnenbild ist wie eine visuelle Metapher dafür. Die Idee dafür basiert auf der Symbolik von Transportkisten. Wir spielen hier mit den Erwartungen an das Märchenhafte. Die Kisten wirken zunächst neutral, aber dann öffnen sie sich und zeigen diese vertrauten Bilder. Sie können sehr prunkvoll sein: die Königin der Nacht zum Beispiel erscheint in grosser Pracht, genau wie man es erwartet. Aber diese Erwartungen werden auseinandergenommen oder zerbrechen sogar. Die Figuren machen ihre eigenen Erfahrungen, und so wird auch das Publikum damit konfrontiert. Denn zu diesem kulturellen Erbe gehören auch schwierige Dinge, die wir nicht so gern ansprechen.
Maximilian Hagemeyer: Auch wenn die «Zauberflöte» sich auf märchenhafte Weise bis heute auf den Bühnen hält und das Publikum verzückt: Die Handlung kommt zum Teil höchst unlogisch daher. Themen wie zum Beispiel das Frauenbild oder die zum Teil rassistischen Stereotype passen so gar nicht in unsere Zeit. Der Faszination für das Erzählen von Geschichten haben wir aber in den neuen Sprechtexten der Inszenierung bei TOBS! Ausdruck verliehen, die die originalen Dialoge ersetzen. Ein Mund spricht die Texte, als Verkörperung der Tradition des Erzählens an sich. Diese Stimme, dieser Mund folgt der Magie, die wir in der Geschichte der «Zauberflöte» erkennen, und konfrontiert die Figuren gleichermassen mit ihrem Gepäck aus Historie, Rezeption und sich wandelnden Haltungen. Ein Märchen will wissen, was es eigentlich ist!
Anna Drescher: Die Auseinandersetzung mit diesem kulturellen Vermächtnis ist wichtig. Je länger man sich mit dem Stück beschäftigt, desto deutlicher wird es. Die «Zauberflöte», die wir alle im Herzen tragen, das sind eigentlich die bekannten Arien, der Vogelmann, die prunkvolle Königin. Ansonsten blendet man vieles aus. Wenn man sich jedoch intensiver mit dem Stück auseinandersetzt, sieht man diese Schichten, die man im kulturellen Gedächtnis beiseite drängt und die doch tief in der «Zauberflöte» stecken. Sie überraschen einen in diesem scheinbar fröhlichen Singspiel, in dem es in Wahrheit um existentielle Sinnfragen geht.
Tatjana Ivschina: Es beginnt schon damit, dass wir die traditionellen Muster oder Stereotypen zeigen, die dann aber aufbrechen. 
Anna Drescher: Die Figuren sind ja fast holzschnittartig angelegt. Wir haben den Prinzen, der den Auftrag erhält, die Prinzessin zu befreien und dafür ein Königreich versprochen bekommt. Die böse Mutter und die hilflose Prinzessin. Den lustigen Papageno. Die drei Damen, die an Hexen erinnern. All das sind Klischeefiguren, die zunächst sehr grob gezeichnet werden. Doch allmählich merken sie: Mit dem reinen Stereotyp kommen sie in der Handlung nicht weiter. 

Wenn sie darüber hinaus wollen, müssen sie anfangen, sich selbst aufzubrechen und zu hinterfragen: Funktioniert diese Geschichte überhaupt?
Tatjana Ivschina: So ist es im zweiten Teil dann tatsächlich. Die Figuren reifen, sie suchen nach sich selbst, es entsteht plötzlich ein Ringen um Klarheit.
Maximilian Hagemeyer: Der Mund erzählt jedoch weiter und versucht, die Geschichte so wiederzugeben, wie sie im kulturellen Gedächtnis verankert ist. Er will die Figuren wieder zusammenführen, die ihre Linie verlieren, weil sie nach Sinn suchen und ihre Rollen hinterfragen. Denn der Mund weiss: Wir brauchen Geschichten, auch die abstrusen, märchenhaften, die dunklen wie die hellen. Und natürlich brauchen wir erst recht ein Happy End! Selbst wenn es gar kein wirkliches Happy End ist. Wir können uns nur dazu ins Verhältnis setzen und einen Sinn finden, indem wir uns entweder bewusst dagegenstellen oder bewusst mitgehen. Wenn es gar nichts gäbe, kein Ende, keine Struktur, kein kulturelles System, dann bewegten wir uns im luftleeren Raum. 
Anna Drescher: Aber die schöne Nachricht ist: Wir brauchen diese Geschichten und dürfen sie lieben, weil sie kultur- und gemeinschaftsstiftend sind.

Wie ergänzt sich dieser moderne Blick auf das Werk mit der musikalischen Interpretation, die sich ja an der historisch informierten Aufführungspraxis orientiert?
Anna Drescher: Das greift alles wunderbar ineinander. Unsere Erzählweise verbindet sich sehr gut mit Meret Lüthis musikalischem Plan, mit ihren Tempi und den vielen Binnenerzählungen, die sie musikalisch aufspannt. Genau das ist ja Teil des Konzepts: Wir spielen mit dem Historischen, holen die «Zauberflöte» so heraus, wie wir sie erwarten, wir bedienen die Liebe zu diesem Stück und auch zu seinen Klischees. Aber der Kniff der Inszenierung ist, dass wir dazu eine besondere Brille aufsetzen, mit der wir den doppelten Boden sichtbar machen. Wir erzählen die Zauberflöte und befragen sie kritisch, während wir erzählen: Gibt es diese Stereotypen heute noch? Was bedeuten sie für uns? Wie finden wir unser eigenes Jetzt durch diese Geschichten? Um das Jetzt zu verstehen, muss man die Vergangenheit verstehen. Wir leben in diesem kulturellen Gedächtnis, und diesen Raum können wir nur bewohnen, wenn wir uns darin verorten. Diese Sichtweise steht dem Musikalischen nicht entgegen, sondern fügt sich extrem gut damit zusammen.

Und es gibt auch einiges zu lachen?
Alle drei: Auf jeden Fall!


Anna Drescher
Inszenierung

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Tatjana Ivschina
Bühne und Kostüme

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«Auf eine Art ist diese Oper ein Puzzle»

Interview mit Dirigentin Meret Lüthi

Sie haben sich als Spezialistin für historisch informierte Aufführungspraxis, als Geigerin und als Leiterin von «Les Passions de l’Âme» seit vielen Jahren profiliert, nun geben Sie mit der «Zauberflöte» Ihr Debüt als Operndirigentin. Wie sind Sie das angegangen?
Ich habe mich auf diese «Zauberflöte» zwei Jahre lang vorbereitet, aber zugleich entwickelt man sich ja lebenslänglich  weiter. Wenn ich in zehn Jahren wieder eine «Zauberflöte» dirigiere, wird sie sicher anders sein. Diese Offenheit, sich weiterzubilden, ist für mich ein Grundprinzip, und etwas, das ich gerne mit allen Mitwirkenden teile.

Zu meiner Vorbereitung gehören vor allem Lektüre und Analyse. Es ist allerdings kaum ein Werk so umfassend beschrieben wie die «Zauberflöte», ich hatte bei der Auswahl der Lektüren die Qual der Wahl! Je nach Bücherliste ergibt sich ein anderes Vexierbild. Ich las also Biografien, Klassiker der Fachliteratur zur Oper, zum Freimaurertum, zur Opernentwicklung, zur Alchemie oder zur Theaterkultur Wiens. Mich interessierte auch die Schnittstelle von Text und Musik, denn der Librettist Schikaneder und Mozart haben ja diese Oper gemeinsam geschaffen und sich gegenseitig auf den Leib geschneidert.

Genauso wichtig ist die Beschäftigung mit der Partitur am Klavier, an der Geige und singend. Ausserdem widme ich mich der harmonischen und formalen Analyse. So werde ich flexibel, denn die musikalische Probenzeit ist knapp, und ich muss im entscheidenden Moment mit all den Möglichkeiten im Kopf frei jonglieren können. Ich höre möglichst lange keine Aufnahmen, um eine eigene Beziehung zum Werk aufzubauen. Diesen Luxus leiste ich mir: ein Werk unabhängig von Traditionen wirklich bis ins Letzte kennenzulernen, um die musikalische Verantwortung zu hundert Prozent zu tragen. Dabei ringe ich um Antworten, versuche im Dialog mit Mozart und seiner Zeit zu stehen. Wenn ich zu einer Antwort komme, ergibt sich eine schlüssige Interpretation. Und mit jeder Antwort tauchen zehn neue Fragen auf. Hilfreich ist auch die Beschäftigung mit Instrumentalschulen jener Zeit: Sie zeigen, wie man damals musizierte, wie zum Beispiel innerhalb jedes Taktes verschiedene Kräfte wirken, in Kombination mit Harmonik, Textsetzung, Rhythmus und Dynamik.

Wie übertragen Sie Ihre Erkenntnisse auf die Probenarbeit mit den Mitwirkenden?
Viele Regeln stehen nicht in den Noten geschrieben, gehörten aber noch zu Mozarts Zeit ganz selbstverständlich zum Musizieren. Zum Beispiel galt ein Notenwert als Maximalwert, die einzelne Note wurde aber meist verkürzt musiziert und sie erhielt stets eine dynamische Form. Das ergibt eine sprechende Orchesterklangkultur mit Licht- und Schattenspiel. Meine Aufgabe ist es, den Mitwirkenden den Blick für dieses Denken zu öffnen. Als Barockgeigerin kann ich den Streicher*innen aus meiner Spielpraxis konkrete bogentechnische Impulse geben, wie man zum Beispiel das artikulatorische ABC erweitern kann. Um den Sänger*innen bestimmte Farben aus den Stimmen zu locken, orientiere ich mich in den einzelnen Arien an den Versen Schikaneders, in Kombination mit den musikalischen Parametern wie Tonart, Taktart, Tonmaterial, Linienführung und der Charakterisierung der jeweiligen Arie.

Jede Figur der «Zauberflöte» hat ihre eigene musikalische Sprache. Welche Entdeckungen haben Sie dabei gemacht?
Auf eine Art ist diese Oper ein Puzzle, ich habe einmal die Idee gehabt, man würde sie neu ordnen und alle Stücke zusammenfügen, die zusammengehören: von den einfachen, schlichten Strophenliedern bei Papageno bis zu den dramatischen Koloraturen der Königin der Nacht. Ganz überwältigend finde ich die Szene mit den beiden geharnischten Männern im Finale, die die Regeln für die Feuer- und Wasserprobe verkünden. Da setzt Mozart plötzlich eine Fuge ein und kombiniert sie auch noch mit einem feierlichen Hymnus, einem zitierten lutherischen Choral. Diese Passage ist wie eine Hommage an Bach, mit dessen Musik sich Mozart zu der Zeit intensiv beschäftigte. Mozart ist in der «Zauberflöte» so unglaublich kühn und zukunftsweisend, und ich frage mich: Wie hätte er wohl mit 60 komponiert, wenn er denn so alt geworden wäre?

Wenn man über die «Zauberflöte» spricht, preist man Mozart, während der Text von Schikaneder heute oft kritisch gesehen wird. Sie haben sich intensiv mit dem Theaterumfeld und mit Schikaneder selbst beschäftigt: Hat das Ihre Sicht auf ihn verändert?
Natürlich gibt es vieles im Libretto, das wir heute nicht akzeptieren können, allen voran die Frauenfeindlichkeit und rassistische Passagen, über die man in der damaligen Zeit nicht stolperte. Aber je mehr ich mich mit Schikaneder beschäftigt habe, desto mehr habe ich auch eine andere Seite von ihm gesehen. Das von ihm als Impresario geleitete Freihaustheater, das ausserhalb des Stadtkerns von Wien lag, hatte deutlich moderatere Eintrittspreise als die kaiserlichen Institutionen, so dass Arm und Reich dort nebeneinander sassen. Zudem war das Freihaus eine riesige Wohnanlage, in der auch Schikaneder selbst lebte, ebenso wie viele andere Mitwirkende der «Zauberflöte». Er hatte das Theater in Pacht und musste wirtschaftlich sehr kämpfen; aber als während einer Staatstrauer nicht gespielt werden durfte, hat er seine Leute trotzdem weiterbezahlt – und riskierte dafür den Bankrott. Diese soziale Ader hat mich sehr versöhnlich gestimmt. Ich sehe den oft kritisierten Text dadurch heute aus anderer Perspektive. Und er enthält auch faszinierende Elemente, zum Beispiel besingt Sarastro in seiner Arie «In diesen heil’gen Hallen» eine utopische Gesellschaft, die keine Strafe kennt, sondern nur Liebe. Das klingt gut in meinen Ohren!

Wie arbeiten Sie mit dem Regieteam zusammen?
Es war für mich von Anfang an ein starker Wunsch, dass Bühne und Musik ein Ganzes ergeben. Das kann auch Kontraste und Provokationen einschliessen, aber es muss zusammengewachsen sein. Deshalb haben wir mit dem gesamten Team schon vor einem Jahr neun Stunden lang die ganze Oper durchgearbeitet. Das war wichtig, denn ich brauchte im Lernprozess als Zugrichtung die Visionen von Anna Drescher, Tatjana Ivschina und Maximilian Hagemeyer, um meine Figuren musikalisch auszuformen. Ich versuchte schliesslich in allen szenischen Proben dabei zu sein, als aktive Beobachterin und als Dirigentin, und konnte im wachen Dialog mit Anna die Musik optimal mit der Bühne abstimmen. Unsere Zusammenarbeit ist ein Glücksfall.


Meret Lüthi
Musikalische Leitung

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